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Anmerkung von RA Michael Graf zu LG Berlin, 4. Zivilkammer, Urteil, 10.02.2022, 4 O 155/21

In seiner Deckungsanfrage an den Rechtsschutzversicherer muss der VN seinen Rechtsschutzfall (hier: Zahlungsansprüche gegen einen KFZ-Hersteller wegen Abgasmanipulation) schlüssig und beweisbar darlegen, vgl. § 17 Abs. 1 (b) ARB 2010; § 128 VVG; § 3a ARB 2010 (zitiert werden im folgenden einheitlich die Harbauer ARB 2010).

 

A. Problemstellung

 

Die Entscheidung des Landgericht Berlin, Urteil vom 10. Februar 2022, Az: 4 O 155/21 beschäftigt sich insbesondere mit der Unterrichtungsobliegenheit des VN und der zugehörigen Frage nach den hinreichenden Erfolgsaussichten im Rahmen eines Rechtsschutzfalls gegen den Hersteller wegen Abgasmanipulation.

 

Der Abgasskandal ist für die deutschen Rechtsschutzversicherer mit Prozesskosten von 1,4 Milliarden Euro der teuerste Schadenfall aller Zeiten. Von der Aufdeckung des Skandals im Jahr 2015 bis Ende Mai haben demnach insgesamt 407.000 Autobesitzer über ihre Rechtsschutzversicherungen Klagen beziehungsweise außergerichtliche Forderungen gegen Autohersteller eingereicht  (vgl. Redaktion beck-aktuell vom 24.06.2022 = becklink 2023687).

 

Die 4. Kammer des Landgericht Berlins hat mit ihrer Entscheidung vom 10. Februar 2022 eine Kostenschutzklage eines rechtsschutzversicherten geschädigten Verbrauchers zurückgewiesen und damit seine weitere Rechtsverfolgung in der Hauptsache (je nach seinen finanziellen Mittel) unmöglich gemacht bzw. erschwert.

 

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

 

Der Sachverhalt, Inhalt und Gegenstand der Entscheidung lässt sich wie folgt verkürzt darstellen:

 

I.

 

Mit Schreiben vom 4. September 2020 teilten die Prozessbevollmächtigten des Klägers (VN) dem beklagten Rechtsschutzversicherer (VR) mit, dass er sie mit seiner rechtlichen Vertretung gegen die B. AG (Hersteller) beauftragt habe und dass der Kläger Ansprüche aus der Manipulation der Abgassteuerung an dem vom Kläger erworbenen BMW 520d gegen den Hersteller gelten machen will. Insoweit war beabsichtigt, insbesondere Rückzahlungsansprüche hinsichtlich des Kaufpreises geltend zu machen. 

 

Die beklagte Rechtsschutzversicherung lehnte mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 ihre Eintrittspflicht wegen fehlender Erfolgsaussicht ab.

 

Wie sich dem Urteil des Landgericht Berlin entnehmen lässt, gab es (zwar) mehrere versicherungsrechtliche Problemfelder, insbesondere die Frage des Versicherungsschutzes aufgrund Versicherungswechsels (§ 4a ARB), sowie die Frage nach der Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten (§ 3a ARB); letztere Rechtsfrage ist hier aus Sicht des Verfassers relevant und näher zu beleuchten.

 

II.

 

Die Klage vor dem Landgericht Berlin hatte nur insoweit Erfolg (i.S.d. § 3a ARB), soweit der deliktisch geschädigte VN die Erstattung der Kosten für den als Stichentscheid bezeichneten vorgerichtlichen Schriftsatz verlangte. Soweit die beklagte Rechtsschutzversicherung die Auffassung vertrat, dieser Betrag sei nicht geschuldet, weil der Schriftsatz nicht die Anforderungen an einen Stichentscheid erfülle (§ 128 VVG), so verfing diese Einwendung nicht.

 

III.

 

Im Übrigen wies das Landgericht Berlin die Kostenschutzklage zurück, insbesondere die Feststellung, dass der beklagte Rechtsschutzversicherer aus dem Versicherungsvertrag im Zusammenhang mit der Schadensnummer verpflichtet sei, die Kosten der außergerichtlichen und erstinstanzlichen Wahrnehmungen seiner rechtlichen Interessen gegen den KFZ-Hersteller aus dem Kauf eines BMW 520d (FIN: ...) und der unterstellten Manipulation der Abgassteuerung des Fahrzeugs zu tragen.

 

Im Streit ging es primär darum, dass der deliktisch geschädigten VN Ansprüche aus der Manipulation der Abgassteuerung an dem vom deliktisch geschädigten VN erworbenen BMW 520d gegen den Hersteller gelten machte.

 

Insbesondere sei laut Klagevortrag in sein Fahrzeug ein unzulässiges Thermofenster eingebaut worden. Aus einer Vielzahl von Messergebnissen hinsichtlich des Motors N47 ergebe sich laut Klagevortrag darüber hinaus, dass außerhalb des Temperaturbereichs von ca. 17-33 °C die Abgasreinigung vermindert und schließlich ganz eingestellt werde.

 

Vorliegend könne - so das Landgericht Berlin - eine Klage des deliktisch geschädigten VNs gegen die Herstellergesellschaft nur dann Erfolg (i.S.d. § 3a ARB) haben, wenn der deliktisch geschädigten VN die Voraussetzungen eines Anspruches nach § 826 BGB gegen die Herstellergesellschaft schlüssig vortrage und gegebenenfalls auch beweisen könne. Mit anderen möglichen Anspruchsgrundlagen beschäftigte sich das Landgericht nicht.

 

Für das Vorliegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung nach § 826 BGB sei hier Voraussetzung, dass zum einen der deliktisch geschädigten VN hinsichtlich der korrekten Abgasreinigung im Fahrzeug durch die Herstellergesellschaft falsch informiert worden sei und dass darüber hinaus diese fehlerhafte Information vorsätzlich in Täuschungsabsicht erfolgt sei, um eine Leistung zu erlangen, die ohne diese entsprechende Täuschung nicht erlangt worden wäre. 

 

Maßgeblich sei insoweit auf das Verhalten der gesetzlichen Vertreter der Herstellergesellschaft bzw. der in der Produktionsorganisation Verantwortlichen bei der Herstellergesellschaft abzustellen. 

 

Eine Rechtsverfolgung könne danach nur Erfolg (i.S.d. § 3a ARB) haben, wenn (1.) zum einen hier eine unzulässige Abschalteinrichtung in das Fahrzeug des deliktisch geschädigten VNs eingebaut wurde und (2.) darüber hinaus der deliktisch geschädigten VN darlegen und beweisen könne, dass dies in sittenwidriger Schädigungsabsicht durch die Herstellergesellschaft geschah.

 

Hieran scheitere es - so das Landgericht Berlin - im vorliegenden Falle, so dass der Kostenschutzanspruch als unbegründet zurückzuweisen war.

 

C. Kontext der Entscheidung

 

Die Entscheidung des Landgericht Berlin überzeugt in weiten Teilen nicht.

 

I. 

Kosten des Stichentscheids

 

Der Entscheidung des Landgerichts Berlin ist insoweit zu folgen, soweit diese die Stichentscheidkosten dem VN zuspricht. Denn der Rechtsschutzversicherer trägt gemäß § 3a Abs. 2 S. 1 („auf Kosten des Versicherers“) die (anwaltlichen) Gebühren des Stichentscheiders (Rechtsanwalt des Versicherungsnehmers), unabhängig von dem Ergebnis, zu dem der Stichentscheid kommt (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 50). 

 

Der Stichentscheid muss keine besondere Form haben, vgl. BGH VersR 1990, 414, 415; OLG Hamm VersR 2005, 1280; Looschelders, Kommentar zu den ARB, 1. Aufl. 2014, § 3a, Rn. 42. Der Stichentscheid muss lediglich erkennen lassen, in welchen Punkten tatsächlicher und rechtlicher Art die Meinung des VR zutreffend bzw. unzutreffend ist, vgl. LG Krefeld r+s 2022, 389 Rn. 18, beck-online; OLG Karlsruhe r+s 1996, 271; Looschelders, Kommentar zu den ARB, 1. Aufl. 2014, § 3a, Rn. 42.

 

Grundsätzlich steht dem Rechtsanwalt eine Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG (Mittelgebühr 1,3) zu. Der Streitwert entspricht dem Kostenrisiko des Rechtsschutzversicherers für die Angelegenheit, für die Rechtsschutz begehrt wird. Es kann sich dabei um eine außergerichtliche Auseinandersetzung handeln oder um eine gerichtliche, dann allerdings beschränkt auf eine Instanz.

 

II. 

Kostenschutz wegen Manipulation der Abgassteuerung des Fahrzeuges

 

Im Hauptstreitpunkt (Kostenschutz) überzeugt die Entscheidung jedoch nicht.

 

Folgende Überlegungen dienen als Basis für die Beurteilung der hier streitigen Frage nach dem geschuldeten Kostenschutz (§ 125 VVG) und hätten vom Landgericht Berlin geprüft bzw. behandelt werden müssen:

 

1. 

Bindungswirkung des Stichentscheids

 

Zunächst einmal hätte die Deckungsklage doch bereits wegen der Bindungswirkung des Stichentscheids begründet sein können.

 

Ein Stichentscheid muss nämlich nur so ausreichend begründet sein, dass er hinreichend erkennen lässt, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art die Meinung des Versicherers (VR) nach Ansicht des Rechtsanwalts unrichtig ist. (aktuell in einem ähnlich gelagerten Fall: LG Krefeld r+s 2022, 389 Rn. 18). Die Klägerseite hatte dort begründet, warum sie auf das Vorliegen eines Thermofensters im klägerischen Fahrzeug schließe.

 

Gibt der Rechtsanwalt - wie auch im Fall des Landgericht Berlin - eine den Anforderungen des § 128 VVG entsprechende, d. h. ausreichend begründete Stellungnahme ab, so bindet diese nach § 3a Abs. 2 S. 2 ARB in der Regel den Rechtsschutzversicherer (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 51).

 

Ein solch formell wirksamer Stichentscheid ist für alle Beteiligten bindend und kann gerichtlich nicht mehr überprüft werden, es sei denn, er weicht offenbar erheblich von der wirklichen Sach- und Rechtslage ab (aktuell in einem ähnlich gelagerten Fall: LG Krefeld r+s 2022, 389 Rn. 20). Darlegungs- und beweispflichtig ist dann derjenige, der sich auf die offenbare Unrichtigkeit des Stichentscheides beruft, hier also der Rechtsschutzversicherer (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 55).

 

 

„Erheblich“ ist die Abweichung aber nur, wenn die Stellungnahme des Rechtsanwalts die Sach- oder Rechtslage gröblich verkennt. „Offenbar“ ist eine solche Unrichtigkeit erst dann, wenn sie sich dem Sachkundigen, wenn auch erst nach gründlicher Prüfung, mit aller Deutlichkeit aufdrängt. Vertritt der Rechtsanwalt von mehreren Rechtsmeinungen aber diejenige, die nicht der herrschenden entspricht, die aber andererseits auch nicht ganz abwegig erscheint oder die höchstrichterlich noch nicht völlig geklärt ist, dann weicht seine Meinung nicht „offenbar“ von der wirklichen Sach- und Rechtslage ab (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 52). 

 

Mit diesen streitentscheidenden Gesichtspunkten hat sich das Landgericht Berlin nicht auseinandergesetzt.

 

Zum Bewilligungszeitpunkt (hier: Schreiben vom 27. Oktober 2020) war – anders als jetzt – die Auffassung, dass ein Thermofenster ohne weiteres eine illegale Abschalteinrichtung iSd Art. 5 Abs. 2 EGVO 715/2007 sei und eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nach § 826 BGB vorliege, mangels einer einheitlichen höchstrichterlichen Rspr. vertretbar. Die Rspr. des BGH, dass das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren sei, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ausgestattet und in den Verkehr gebracht hätten, gilt erst seit dem Beschl. v. 19.1.2021 (vgl. BGH, VI ZR 433/19, NJW 2021, 921). Vor dieser höchstrichterlichen Entscheidung, d. h. zum Bewilligungszeitpunkt, ergibt sich die hinreichende Erfolgsaussicht der Hauptsacheklage bereits aus dem Umstand, dass mehrere Landgerichte in erster Instanz einen Schadensersatzanspruch eines Kraftfahrzeugkäufers wegen des Inverkehrbringens von Dieselfahrzeugen mit manipulierter Abgassoftware durch den Einbau eines Thermofensters bejaht haben, unter anderem gemäß § 826 iVm § 31 BGB, vgl.: m.w.N. und Begründungen: aktuell in einem ähnlich gelagerten Fall: LG Krefeld r+s 2022, 389 Rn. 23, beck-online.

 

2.

Präklusion

 

Das Landgericht Berlin hätte sich im vorliegenden Fall aufgrund der zeitlichen Abläufe von Deckungsanfrage und Deckungsablehnung auch mit der Rechtsprechung zur Präklusion des Rechtsschutzversicherers auseinandersetzen können (und müssen):

 

Denn bereits mit Schreiben vom 4. September 2020 teilten die Prozessbevollmächtigten des Klägers (VN) dem beklagten Rechtsschutzversicherer mit, dass und weshalb er Ansprüche aus der Manipulation der Abgassteuerung an dem vom Kläger erworbenen BMW 520d gegen den Hersteller gelten machen will. 

 

Die beklagte Rechtsschutzversicherung prüfte den Rechtsschutzfall zunächst nicht, sondern beschränkte sich auf die Zurückweisung wegen angeblicher Vorvertraglichkeit, sie lehnte erst mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 ihre Eintrittspflicht wegen fehlender Erfolgsaussicht ab.

 

Nach § 128 S. 2 VVG und § 3a Abs. 1 ARB 2010 muss der Rechtsschutzversicherer, der seine Leistungspflicht wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht oder wegen Mutwilligkeit verneinen will, dem Versicherungsnehmer unverzüglich die Gründe hierfür schriftlich mitteilen (§ 3a Abs. 1 S. 3 ARB 2010) und ihn mit der Deckungsablehnung auf das im Rechtsschutzversicherungsvertrag vereinbarte Gutachterverfahren bzw. Stichentscheidverfahren hinweisen. Andernfalls verliert der Rechtsschutzversicherer das Recht, sich auf die fehlende hinreichende Erfolgsaussicht oder Mutwilligkeit zu berufen (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, VVG § 128 Rn. 12).

 

Die Ablehnung muss umfassend und unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 S. 1 BGB) erfolgen. Es verbietet sich daher auch die stufenweise Ablehnung unter Vorbringen immer neuer und anderer Einwendungen („Salamitaktik“). Teilt der Rechtsschutzversicherer dem Versicherungsnehmer nicht „unverzüglich“ alle seine (rechtserheblichen) Einwendungen gegen die Leistungspflicht, dann verliert er das Recht, sich auf fehlende hinreichende Erfolgsaussicht oder Mutwilligkeit zu berufen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte: „Unverzüglich“ bedeutet eine Bearbeitungszeit von maximal zwei bis drei Wochen ab Unterrichtung des Rechtsschutzversicherers (§ 17 Abs. 1 (b) ARB 2010), vgl. m.w.N. BGH r+s 2016, 462 Rn. [38].

 

Im vorliegenden Fall lagen zwischen Deckungsanfrage und Deckungsablehnung fast acht Wochen, so dass das Landgericht Berlin hier die Präklusion hätte thematisieren können und müssen.

 

3.

Hinreichende Erfolgsaussichten

 

Das Gericht hat nach Ansicht des Verfassers zu strenge Maßstäbe an die Prüfung der hinreichenden Erfolgaussichten nach § 128 VVG, § 3a ARB 2010 gelegt.

 

a.

 

Will der Versicherungsnehmer Rechtsschutzleistungen (gemäß §§ 5, 5a ARB 2010) in Anspruch nehmen, hat er den Rechtsschutzversicherer lediglich über sämtliche Umstände des Rechtsschutzfalles zu unterrichten und Beweismittel anzugeben sowie Unterlagen auf Verlangen zur Verfügung zu stellen (Harbauer, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 17 Rn. 31).

 

Eine Rechtsschutzversicherung muss Deckungsschutz im Zusammenhang mit der Diesel-Abgas-Problematik gewähren, wenn einem Kläger unter dem Gesichtspunkt hinreichender Erfolgsaussicht nach § 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen wäre.

 

Davon ist laut Landgericht Düsseldorf allgemein (und auch in den Fällen der Abgasmanipulation) dann auszugehen, wenn die Entscheidung von der Beantwortung schwieriger Rechts- und Tatfragen abhängt. Die Klärung solcher Fragen dürfe nämlich gerade nicht in den Rechtsschutzdeckungsprozess vorverlagert werden (vgl. m.w.N.: Redaktion beck-aktuell, 23. Februar 2022 zu LG Düsseldorf, Urteil vom 02.02.2022 - 9 O 257/21 = becklink 2022346).

 

Die materiell rechtliche Durchsetzung eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen arglistiger Täuschung bzw. unerlaubter Handlung im „Abgasskandal“ u.ä. ist durchaus möglich; m.w.N.: BGH NJW 2020, 1962; BGH, Urteil vom 21.11.2021 - VI ZR 455/20; m.w.N.: beck-aktuell vom 16. Februar 2022 zu BGH VI ZR 455/20 = becklink 2022282, beck-online; BGH VersR 2022, 852 Rn. 18.

 

Dies gilt auch für die prozessuale Durchsetzung der Ansprüche in einem solchen „Abgasskandal-Rechtsschutzfall“, jene ist möglich und kann Erfolg zeitigen, vgl. ausführlich Klein NZV 2022, 49.

 

Inhalt und Umfang der Informationsobliegenheit (Unterrichtungsobliegenheit) hängen von dem Rechtsschutzfall ab, für den der Versicherungsnehmer Rechtsschutz begehrt (im Produkthaftungs-/Medizinschadensrecht bspw. sind die Substantiierungsanforderung des Geschädigten aufgrund des Grundsatzes des Waffengleichheit sehr gering). Der Versicherungsnehmer hat dem Rechtsschutzversicherer nur die Tatsachen vorzutragen, die diesen in die Lage versetzen zu prüfen, ob ein bedingungsgemäßer Versicherungsfall vorliegt und in welchem Umfang dieser seine Leistungspflicht auslöst (Harbauer, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 17 Rn. 38).

 

Nichts anderes kann für den rechtsschutzversicherten Geschädigten gelten, der Ansprüche gegen den Hersteller wegen Abgasmanipulation geltend machen will.

 

b.

 

Das Landgericht verkennt, dass der Versicherungsnehmer und auch der etwa schon eingeschaltete Rechtsanwalt zu Rechtsausführungen nicht verpflichtet sind (Harbauer, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 17 Rn. 39).

 

Ob der rechtsschutzversicherte Geschädigte seine Ansprüche gegen den Hersteller auf § 826 BGB, bzw. auch auf § 823 BGB, und/oder auch auf Produkthaftungsgesetz oder auf andere rechtlich vertretbare Anspruchsgrundlagen stützen will, muss er dem Versicherer nicht mitteilen. 

 

Mit Umständen des Rechtsschutzfalles i.S.d. Unterrichtungsobliegenheit (§ 17 Abs. 1 (b) ARB 2010) sind nämlich nur Tatsachen gemeint. 

 

Weder der Versicherungsnehmer noch der Rechtsanwalt (außerhalb des Verfahrens nach § 3a ARB) schulden danach Rechtsauskünfte oder die Übersendung von Klageentwürfen o.ä., dies gilt um so mehr, wenn der Versicherungsnehmer (wie üblich) die Beauftragung des Rechtsanwalts von einer vorherigen Deckungszusage abhängig macht (Harbauer, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 17 Rn. 40).

 

Das Landgericht hätte daher den geschilderten Sachverhalt nicht nur mit Blick auf § 826 BGB unter der wohlwollenden Brille der hinreichenden Erfolgsaussicht nach § 114 ZPO abprüfen müssen, sondern den geschilderten Sachverhalt unter alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen subsumieren müssen, jenes hat das Landgericht Berlin nicht getan.

 

c.

 

Dabei hätte das Landgericht Berlin auch die Darlegungs-/Beweislast beachten müssen: Beruft der Rechtsschutzversicherer sich auf das Fehlen der hinreichenden Erfolgsaussicht oder will er geltend machen, die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers sei mutwillig, so ist nämlich er (der VR) hierfür beweispflichtig (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 12).

 

Bei der Prüfung der Frage, ob die beabsichtigte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Erfolgsaussicht hat oder mutwillig ist, wäre zudem auf den Zeitpunkt der sog. Bewilligungsreife abzustellen gewesen, d. h. allein auf den Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft, das Nachschieben von Gründen nach seiner Ablehnung ist dem VR grds. versagt (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 13). Das Landgericht Berlin hat sich in seiner Entscheidung auch mit diesem (im Rechtsschutzversicherungsrecht fundamentalen) Zeitmoment nicht auseinandergesetzt.

 

d.

 

Maßgeblich ist doch allein, ob der Standpunkt des Versicherungsnehmers auf Grund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zumindest vertretbar ist. Darüber hinaus muss in tatsächlicher Hinsicht zumindest die Möglichkeit der Beweisführung bestehen. Hinreichende Aussicht auf Erfolg hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Versicherungsnehmers in aller Regel bereits dann, wenn die Entscheidung von der Beantwortung schwieriger Rechts- oder Tatfragen abhängt. Das ist bspw. der Fall, wenn der Sache wegen klärungsbedürftiger Fragen grundsätzliche Bedeutung zukommt. Keinesfalls dürfen die Anforderungen an die hinreichende Erfolgsaussicht überspannt werden (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 17).

 

In rechtlicher Hinsicht muss der Sachvortrag des Versicherungsnehmers lediglich schlüssig sein (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 18). 

 

Ein Anspruch auf Schadensersatz wegen arglistiger Täuschung im „Abgasskandal“ kann durchaus schlüssig dargelegt werden (BGH NJW 2020, 1962; BGH, Urteil vom 21.11.2021 - VI ZR 455/20 und becklink 2022282, beck-online; BGH VersR 2022, 852 Rn. 18). Dies untermauert auch der Rechtsgedanke des BGH zum Berufungsrecht: Ob das Vorbringen der Berufungsbegründung geeignet ist, die Rügen inhaltlich zu rechtfertigen ist eine Frage der Begründetheit der Berufung über die nicht vorentschieden werden darf (so zu den Abgasmanipulationsfällen: BGH NJW-RR 2022, 642 Rn. 15).

 

Das Landgericht Berlin ist hier schlichtweg zu streng, wenn es dem deliktisch geschädigten VN bereits im Deckungsprozess auferlegt, insoweit konkrete (innere) Umstände vorzutragen, die den Schluss darauf zulassen, dass im Jahr 2011 oder kurz davor bewusst in Kenntnis der Unzulässigkeit des Einbaus eines Thermofensters sich die Verantwortlichen bei der Herstellergesellschaft gleichwohl zum Einbau eines Thermofensters entschieden haben, um den künftigen Käufern den Eindruck zu vermitteln, dass die von ihr produzierten Fahrzeuge die Abgasnormen einhalten. 

 

Es dürften diese genauen inneren Umstände (der sittenwidrigen Verbauung) allein der Klärung der Hauptsache vorbehalten sein, zumal auch hier Fragen der sekundären Darlegungslast und vor allem die Fragen nach weiteren möglichen Anspruchsgrundlagen noch zu klären wären.

 

Dem rechtsschutzversicherten Geschädigten seine Rechtsverfolgung gegen den Hersteller wegen Abgasmanipulation bereits an dieser rechtsschutzversicherungsrechtlichen Schnittstelle quasi abzuschneiden, erscheint mehr als fraglich, zumal nur das Hauptsachegericht im eigentlichen Hautptsacheverfahren die Möglichkeit und die Pflicht hätte, den Geschädigten (Verbraucher und technischer Laie) über § 139 ZPO auf fehlende oder ergänzungsbedürftige Punkte hinzuweisen. Diese sogar verfassungsrechtlich verankerte „prozessuale Hilfe“ darf dem rechtsschutzversicherten Geschädigten also nicht durch zu strenge Anwendung von § 17 Abs. 1 (b) ARB 2010; § 128 VVG; § 3a ARB 2010 bereits vorneweg in der für ihn elementaren Frage nach Kostenschutz (faktisch) genommen werden.

 

In tatsächlicher Hinsicht muss lediglich die Möglichkeit einer Beweisführung bestehen (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a). Bietet der Versicherungsnehmer also zulässige Beweismittel an (bspw. Sachverständigenbeweis; Zeugenbeweis, bspw. Anhörung und Vernehmung von Mitarbeitern etc.), wird die Möglichkeit einer Beweisführung i.S.d. § 114 ZPO in der Regel nicht zu verneinen sein. Kommt im Prozess eine Parteianhörung in Betracht, kann die Erfolgsaussicht ebenfalls nicht ohne weiteres verneint werden (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 19).

 

Das Argument des Landgerichts Berlin, es sei bereits zweifelhaft, ob der deliktisch geschädigten VN ausreichend hinreichende Tatsachen dazu vorgebracht habe, dass und wie hier überhaupt eine unzulässige Abschalteinrichtung in sein Fahrzeug verbaut wurde, verfängt mithin nicht, da dieser Umstand erst in der Hauptsache bspw. durch Sachverständige und/oder Zeugen geklärt werden kann bzw. muss. Nach überwiegender Auffassung - und dies stellt das Landgericht Berlin zutreffend fest - lässt sich die Frage, ob es sich bei dem konkreten Thermofenster, um einen zulässigen Motorschutz oder einen unzulässigen Eingriff in das Emissionskontrollsystem handelt, nicht abstrakt beurteilen, sondern ist für jedes System gesondert zu prüfen.

 

Bietet der Versicherungsnehmer mithin zulässige Beweismittel für schlüssigen Vortrag an, dann kann der Rechtsschutzversicherer (bzw. das Gericht im Deckungsprozess) also das Scheitern der Beweisführung und damit das völlige oder teilweise Fehlen der hinreichenden Erfolgsaussicht nicht unterstellen (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 21).

 

D. Auswirkungen für die Praxis

     

Die Flut der „Dieselverfahren“ ist ungebrochen. Sie verschont auch den BGH nicht und nagt am dort gepflegten Grundsatz des für seine Spezialmaterie grundsätzlich allein zuständigen Zivilsenats. Mittlerweile ist bereits der vierte Senat des BGH mit deliktsrechtlichen Verfahren befasst: Neben dem VI. Zivilsenat, der als der für das Recht der unerlaubten Handlungen grundsätzlich zuständige Senat alle bis Ende August 2020 eingegangenen Verfahren zu schultern hat, dem III. Zivilsenat und dem VII. Zivilsenat ist zum 1.8.2021 der VIa. Zivilsenat als Hilfssenat eingerichtet worden, dem seither alle neu eingehenden Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzansprüche aus unerlaubten Handlungen, die den Vorwurf einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei einem Kfz mit Dieselmotor zum Gegenstand haben, zugewiesen werden (vgl. m.w. N.: Klein NZV 2022, 49).

 

Gleichzeitig ist der «Diesel-Skandal» das teuerste Schadenereignis in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherung. Über 400.000 Versicherungsnehmer haben deswegen ihre Rechtsschutzversicherer in Anspruch genommen. Der Gesamtstreitwert der über die Rechtsschutzversicherer abgewickelten Diesel-Rechtsschutzfälle ist damit auf mittlerweile 10,5 Milliarden Euro gestiegen (Stand: 06/2022 = vgl. FD-VersR 2022, 450156).

 

Die Justiz ist verständlicherweise in der Bredouille. Wie bereits die Gerichte der ersten und zweiten Instanz wird, wenn es so weiter geht, irgendwann auch der BGH an die Grenzen seiner Schaffenskraft geraten (Klein NZV 2022, 49).

 

Gleichwohl muss im Rahmen des § 125 VVG gelten, dass - solange konkrete Tatfragen streitentscheidend sind bzw. die rechtlichen Auswirkungen des sog. VW-Abgasskandals und ähnlicher Fälle höchstrichterlich noch nicht vollständig geklärt sind - die hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 128 VVG nicht verneint werden kann. 

 

Der im Rahmen der Abgasskandalfälle vorgebrachte Einwand des Rechtsschutzversicherers, die Einleitung des Klageverfahrens oder die Einlegung der Berufung sei unnötig, unverhältnismäßig oder verfrüht, verspricht keinen Erfolg. Diese Beurteilung ist nämlich nicht Aufgabe des Rechtsschutzversicherers, da hierdurch der Versicherungsnehmer des durch den Versicherungsvertrag gewährten Schutzes beraubt würde (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3a Rn. 22).

 

Nach wie vor muss - trotz der Bredouille der Justiz - unser Rechtssystem garantieren, dass vorliegende Tat- und Rechtsfragen eines jeden Abgasskandalgeschädigten im eigentlichen Hauptsacheverfahren einzelfallbezogen verhandelt, geklärt und ggf. entschieden werden ("fair trial" = Recht auf ein faires Verfahren). Daher verbietet es sich, wenn ein Gericht bereits im vorweggenommenen Deckungsprozess der weiteren Rechtsverfolgung (faktisch) den „Riegel vorschiebt“, in dem es dem versicherten Geschädigten den Kostenschutz hierzu versagt (womöglich auch mit der unbewußten Intention der „rechtzeitigen Eindämmung“ der steten Arbeitsflut von Abgasskandalklagen und Aktenberge?).

 

Zu sehen ist auch, dass ebenso bei den Rechtsschutzfällen im Abgasskandal die Grenze zur Schadensminderungspflicht des § 82 VVG erst dort zu ziehen ist, wo sich das Verhalten des rechtsschutzversicherten VN mit dem einer vernünftigen unversicherten Partei, bei der finanzielle Überlegungen keine (!) Rolle spielen, nicht mehr in Einklang bringen lässt (vgl. OLG Stuttgart VersR 2016, 1439; OLG Karlsruhe VersR 2003, 58 = juris Tz. 12; Graf/Schoenaich VersR 2017, 1505).

 

Mit Blick auf OLG Schleswig Hinweisbeschluss v. 12.5.2022 – 16 U 53/22, BeckRS 2022, 14549 sei jedoch jedem VN (bzw. dessen Rechtsanwalt) dringend empfohlen, schon in der Deckungsanfrage die einzelnen Tatbestandsmerkmale und Beweismittel seiner schuld-/deliktsrechtlichen Ansprüche möglichst konkret und schlüssig darzulegen, freilich sollte man sich dabei (auch wenn in § 17 Abs. 1 (b) ARB 2010 nicht geschuldet) rechtlich mit seinen (am besten mehreren) Anspruchsgrundlagen auseinandersetzen; rein pauschale Darlegungen und „Mustertextbausteine“ zum Abgasskandal könnten durchaus zu einer (vertretbaren) obergerichtlichen Zurückweisung des Kostenschutzanspruchs führen.

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